"Ich lebe nur noch 3 Monate."

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"Aber das schon seit 5 Jahren."

Ich bin ein Wochenende auf Sylt bei meiner besten Freundin. Kinder sind unter, Verpflichtungen sind ausgeschaltet und unser Party-Modus ist an. Das erste Mal in 13 Jahren. Wir Singen, Lachen und Tanzen wie früher – leicht, ungezwungen und vor allem in den Tag hinein. Wir stellen fest, wie schön das ist, keine Pläne zu haben und diesen mentalen Load einmal abzulegen. Welche Schuhe brauchen wir nächste Woche, was machen wir Weihnachten und auf welche Schule geht die Große bald – wir sind mit unserem Kopf so oft überall, aber nicht im Hier und Jetzt.

Auf Sylt ist gerade SurfCup – DIE Party am Strand. Touristen kommen von überall, das aufgebaute Zelt ist ein Magnet. Schon um 19h startet die Party und meine beste Freundin und ich sind mittendrin. Mit drölf Sekt im Kopf gehört die Tanzfläche uns. Um uns herum lauter Jungs- und Mädelstrupps aus ganz Deutschland. Hier ein Junggesellen-Abschied, da eine Kegeltruppe. Segelschuh-Idioten tanzen mit HipHop-Mäusen, Opas mit Enkeln und der Schweiß tropft im Zelt innerhalb kürzester Zeit von der Decke. Meine Freundin und ich fühlen und wie früher. Was haben wir diese Partys immer schon geliebt. 

Besonders nett ist eine Jungstruppe aus dem Hamburger Umland, die wir immer wieder treffen. Als ich einen der Männer beim Tanzen in den Arm nehme, fühle ich etwas Hartes an seinem Bauch. Ich denke sofort an einen Blutzucker-Sensor, wie ihn auch meine Freundin hat und frage ihn, ob er auch Diabetes hat. Als er verneint, will ich wissen, was es denn dann damit auf sich hat, immer noch in dem Glauben, dass es nichts Schlimmes ist. Er sieht gut aus, wirkt fit, Tanzt, Trinkt – nichts an seinem Äußeren deutet darauf hin, dass das Plastik-Teil mich so beschäftigen würde. 

Das Plastik-Teil ist eine Drainage. Mein Tanzpartner hat Krebs. Darmkrebs. Ich kann es gar nicht glauben. Er erzählt mir, dass kein Arzt so lange mit ihm gerechnet hätte. Wenn es nach den Prognosen der Ärzte geht, hat er noch 3 Monate. Aber das schon seit 5 Jahren. Ein kleines Wunder. Und doch sorgt diese Diagnose dafür, dass dieser attraktive Mann weder Frau noch Kinder hat, denn wenn man nur drei Monate planen kann, sieht es mit der Zukunftsgestaltung mau aus. 

Diese Begegnung geht mir nicht aus dem Kopf. Die gesamte Rückfahrt denke ich darüber nach, wie es sein muss, wenn man keine großen Schritte macht, einfach, weil man denkt sie nicht mehr zu erleben. Ich fahre die 8 Stunden nach Hause und schweife mit den Gedanken immer wieder zu meinem Tanzpartner. Ich frage mich, ob ich in meinem Leben etwas ändern würde, wenn ich wüsste, dass es so begrenzt ist. Und dann realisiere ich, dass jedes Leben begrenzt ist. Keiner kommt lebend von dieser Welt und niemand weiß, wie viele "3-Monats-Phasen" ihm oder ihr noch bleiben.

Als ich ein paar Tage später anfangen will mich über meinen vollen Kopf zu ärgern, schmunzle ich und freue mich darüber, dass er so voll sein darf. Dass ich so viele Schritte schon gehen durfte ist ein Geschenk.

Ich habe mich auf jeden Fall die nächsten 50 Jahre mit meinem Tanzpartner auf Sylt wieder verabredet. Immer zum SurfCup. Und ich hoffe von Herzen ihn noch viele Male dort zu Treffen – Trinkend, Lachend und Feiernd.